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Geschichte bis 1944
Vom Kaiserreich zur Inflation:
Die Erinnerungen von Paul Lemke
Am Südufer des Kurischen Haffs, ca. 12 km östlich von dem
Badeort Cranz, liegt mein Geburtsort Schaaksvitte. Es ist ein
Fischerdort, durch die Beek in zwei Hälften getrennt, mit
einem Hafen, mit Damm, Ladeplatz und Mohle. Die
Einwohner, vorwiegend Fischer, einige Handwerker und einige
Bahnbeamte, denn bei uns ist die Endstation der Königsberger
Kleinbahn. Mein Vater war ein guter Tischlermeister, mit
eigenem Betrieb. Mit sechs Söhnen und drei Töchtern, waren
wir eine kinderreiche Familie. Um die Ernährungsfrage zu
sichern, hatte Vater immer zwei bis vier Kühe und somit
hatten wir Buben auch unser Tätigkeitsfeld, aber dennoch
denke ich auch jetzt noch oft an die herrlichen Jugendjahre
zurück.
Eine dauernde Erinnerung, die ersten sonnigen Maientage,
wenn die Weidenbüsche an der Beek blühten, die Bienen
summten und wir kleinen Knirpse, mit einer primitiven Angel,
wobei die Würmer als Köder nur einfach angeknotet wurden,
auf Stechlinge angelten.
Etwas später, die ersten Bade- und Schwimmversuchte am kleinen und später am großen
Erlenbusch in der Beek. Ein besonderes Ereignis, wenn man zum ersten Mal die
Hafeneinfahrt schwimmend bezwungen hatte. Bedingt durch die gute Gelegenheit
entwickelten wir uns zu richtigen Wasserratten. Auch später haben wir oft an Sonn- und
Feiertagen gute Erholung gesucht und gefunden.
Am Haffufer waren große Rohr-, Schilf- und Binseninseln und als wir von unserem
Fischeronkel ein alten ausrangiertes Netz bekamen, haben wir die Flüsse und den Haffrand
mit mehr oder weniger Erfolg unsicher gemacht. Verschiedentlich haben wir auch die Nester
der Taucher, Schilfhühner und Wildenten ausgenommen.
Beim Hüten der Kühe hatten wir immer reichlich Gesellschaft unserer Altersgenossen. Die
großen Haffwiesen mit den Weidenbüschen und Rohrinseln waren unser Reservoir, zum
Indianerspielen wie geschaffen.
Unvergesslich am Abend die Rufe der Rohrdommel mit seinem "versup" und auch der
anderen Vögel. Wenn die Jungstare flügge waren, haben abertausende Stare auf dem Rohr
übernachtet. Beim ersten Morgengrauen zogen sie ab und am Abend fielen sie in großen
Schwärmen im Rohrdickicht ein, denn daselbst waren sie vor allem Raubwild gesichert.
Nirgends habe ich solch große Ansammlung von Vögeln erlebt.
Nach dem langen Winterwaren die Kiebitze eine der ersten Frühlingsboten. Aber Hunderte
umschwärmten die Nistplätze,in den niederen Weidegärten und Wiesen. Am Abend konnte
man dieses Konzert hören, sobald man sich aber den Nistplätzen näherte, wurde man von
den Tieren verfolgt, indem sie bemüht waren, die Eindringlingen von ihrem Gelege
wegzulocken.
Bei sonnigem Wetter war die Nehrung bis zu den Wanderdünen von Rossitten und die
Häuser von dem Fischerdörfchen Sarkau auf der Nehrung gut sichtbar. Ein stolzer Anblick,
wenn die Dampfer in bestimmtem Abstand von der Nehrung von Cranz nach Memel liefen.
Oft hat der hiesige Fischmeister Nebel in seinem Dienstboot mit uns einen Ausflug nach
Sarkau unternommen. Da die Nehrung daselbst nur 400 Meter breit war, konnte man sich
nach Herzenslust in der Ostsee tummeln. Der alte Fischermeister ein spaßiger Mann, hatter
er mal unkundige Passagiere an Bord und der Wind war nur schwach, hat er am Mast einen
Strick angebunden und die jungen Fahrgäste mussten ziehen, damit die Fahrt schneller von
statten ginge. Nebenbei war er ein leidenschaftlicher Jäger. Wenn die angrenzende Domäne
Schaaken Treibjagd hatte, bezog er Posten auf seinem angrenzenden Gebiet und hat dabei
oft mehr Hasen im Durchschnitt geschossen als die Veranstalter.
Im Garten hatte er ein Eichhörnchen,mit einem Häuschen und einer angrenzenden
Trommel, welche das Tier in Bewegung brachte und für uns sehr anziehend war. Einen
besonderen Spaß für ihn, wenn er einen von den Kleinen beim Spiel so verstecken konnte,
daß er nicht gefunden wurde. Den größeren Mädels, diesogar schon im Besitz eines Mantels
waren, ließ er oft heimlich einen ausgekauten Priemen in die Manteltasche gleiten. Mit
offenem Mund haben wir oft zugehört, wenn er seine Erlebnisse so spannend vorgetragen
hat, denn damals haben wir noch nicht gewusst, daß ein Großteil Seemannsgarn und
Jägerlatein darin enthalten war.
Eine gute Abwechslung bot uns die Eisbahn auf der Beek und auf dem Haff, wovon eifrig
Gebrauch gemacht wurde.
An einem Sonntag früh fuhren Adolf Masteit und ich mit einem Schlitten und Fischergeräten
heimlich auf das Haff, um zu klappern. Im Eis wurde ein viereckiges Loch gehausen, die
Netze hüben und drüben mit einer langen Stange unter das Eis geschoben. An die Netze
wurde eine Schnur, mit einem Schwimmer befestigt, dann ein besäumtes Brett, das am
oberen Ende verstärkt war, unter das Eis geschoben. Mit zwei Holzschlägeln wurde auf das
Brettendegeklopt und somit für die Fische ein Konzert veranstaltet. Je mehr sich der
Schwimmer bewegte, ein Zeichen, daß die Fische ins Netz gingen, um so lebhafter wurde
getrommelt. Die Ausbeute war nicht sonderlich, aber es war ein einmaliges Erlebnis. Ein
Fiasko haben wir beide in einer Nacht von Pfingstsamstag zu Sonntag <erlebt>. Es war eine
mondhelle, laue Sommernacht, als wir vom Bahnhof kommend bemerkten, daß die
Rohrplötze in der Beek laichten. Kurz entschlossen holte A. Masteit einen Kahn und zwei
Netze und wir haben einige Stunden gefischt. Wir hatten zwei große Körbe voll, doch –oh
weh- der alte Mastei wollte seinen Sohn tot schlagen, die Fische konnten infolge der
Feiertage nicht abgesetzt werden und die ganz neuen Netze waren versaut.
Am Mobilmachungstag zum Ersten Weltkrieg war ich auf der Weide und hatte daselbst
Schlingen aus Pferdehaar für die Stare aufgestellt. Mit zwei lebendigen Staren in der Tasche
habe ich an der Post die Mobilmachung<sanordnung> gelesen. Damals war die
Begeisterung sehr groß, daheim auf dem Hausdach war eine Fahne gehißt und die beiden
ältesten Brüder waren schon beim Waschen. Am nächsten Morgen mit dem ersten Zug
mussten meine Brüder und viele Anderen einrücken.
Fast das ganze Dorf war auf dem Bahnhof versammelt und das Gejammer einiger Frauen
war unnatürlich laut.
Die nächsten Jahre waren vom Krieg überschattet, zu erwähnen wäre noch der
Russeneinfall in Ostpreußen 1914. (Anm.1) Unsere Abwehrfront war sehr dünn und der
Gegner war bis zur Deime vorgedrungen. Die Rauchfahnen der Brände waren von uns
<aus> gut sichtbar und unter Kanonendonner wurde der Jahrgang 1900, darunter auch
meine Schwester Grete in der Kirche konfirmiert. Einige Sachen waren gepackt, aber wohin
sollten wir fliehen? Zum Glück wurden die Russen bald zurückgetrieben.
Ohne große Begeisterung wurde ich 1915 von meinem Vater in die Lehre eingespannt, denn
mein Jugendtraum, ich wollte Bauer werden, Königin meinem Reich und von keinem
abhängig. Jedoch diesen Wunsch habe ich begraben müssen.
Die Kriegsjahre waren weniger angenehm, denn obwohl wir einige Kühe hatten, war die
Verpflegung doch mangelhaft. Um den Küchenzettel zu erweiteren, fuhren mein Bruder
Hans und Ich mit dem Fahrrad, mit einem Stück Netz und Gerät an einem Sonntag am
frühen Morgen ca. 5 km weg, um an einem Waldrand in einem Kanal, wo es Hechte gab, um
zu fischen. Es liess sich auch sehr gut an, denn wir hatten bereits 13 Stück gefangen. Aber
so ist es oft im Leben – je mehr er hat, je mehr er will. Über den Bach ging ein schmaler
Steg, ganz in der Nähe vom Wald. Wir schoben unsere Fahrräder ein Stück über den Steg
hinweg, um bis dahin zu fischen. Doch welch ein Schreck, als plötzlich der Förster die Wiese
überquerte und den Steg überschritt. Was sollten wir tun, unsere Fahrräder im Stich lassen
konnten wir nicht und so wurden wir das Netz und auch die Hechte los. Doch wir gaben nicht
auf, denn am Nachmittag wurde das Unternehmen nochmal gestartet, die Ausbeute war
gering, denn nur ein Hecht ging uns ins Netz.
Mein Bruder Max, der 1917 zur Wehrmacht eingezogen wurde, musste vorher noch eine
Notgesellenprüfung ablegen.
Der Krieg ging weiter, die guten und weniger guten Nachrichten überschlugen sich. Noch im
Laufe des Krieges machte ich meine Gesellenprüfung.
Doch auch dieses Völkerringen ging zuende, trotz der anfänglichen Erfolge waren wir am
Ende doch die Verlierer.
Nach dem Kriege lag die Wirtschaft ziemlich still. Eine schwere Grippeepidemie durchzog
unser Land. Die Sterblichkeit war ungewöhnlich hoch. Die Arbeitslage war nicht besonders
und wir haben oft Zimmerarbeiten ausgeführt. Sehr viel haben wir in der Inflationszeit in
Wesselshöfen gearbeitet und da mein Vater durch die Geldverrechnung immer der Dumme
war, hatte er danach einen Stundenlohn von 4 Pfund Roggen vereinbart. Doch, wie man’s
macht, ist’s verkehrt, hätte er jetzt <wohl beim Übergang zur Deflation> auch wieder Geld
genommen,hätte er pro Zentner12 Billionen <Mark>, also 12 RM. bekommen, da er aber
Roggen nahm, bekam er beim Verkauf nur 7 RM, <war> also wieder der Dumme.
(Paul Lemke ist der Vater von Erhard, Dieter, Hans-Georg und Ilse Lemke).
Anm. 1
Im August 1914 drang die russische Armee nach Ostpreußen vor und besetzte
zeitweise etwa die Hälfte der gesamte Provinz. Dabei kam es zu Plünderungen und
Brandschatzungen, ferner flohen hunderttausende Zivilisten in Richtung Ostsee bzw.
der beiden Haffs. In einigen Gegenden erreichte der Zerstörungsgrad das Ausmaß
der Verwüstungen von 1945. Das Samland blieb allerdings weitgehend verschont.
Nach der Schlacht von Tannenberg wurde die russische Armee dann vertrieben.
Andreas Kossert, Ostpreußen, Geschichte und Mythos, München 2007, S. 196 - 216.
Diese Übersicht ist dank weiterer Infos von Günter Lemke, Hagen,
genauer als frühere. Es blieben einige Unklarheiten zu den alten Infos.
Ich bin "integrativ" vorgegangen, habe -soweit möglich- alle Angaben
einbezogen. Die Grafik ist also ein Amalgam, das auf den Unterlagen
von Ilse Stumpp, geb. Lemke, Günter Lemke und eigenen Forschungen
basiert.