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Gewalt, Tod und Odyssee
Herbert Laubstein
Die letzten Jahre am Kurischen Haff 1945 - 1948
Die Nacht vom 26. auf den 27. Januar <1945> war gespenstisch.
Unser Dorf lag zwischen dem Artilleriefeuer der deutschen und
russischen Wehrmacht. Immer wieder patrouillierten deutsche
Soldaten und teilweise auch noch Volkssturmmänner, mit
Panzerfäusten und Maschinengewehren bewaffnet, durch die
Gegend. Nur wir, die vertrauensseligerweise noch immer an
die Viehversorgung dachten, konnten keinen Fluchtentschluss
fassen.
Schon nächtelang hatten wir keinen Schlaf mehr gefunden.
Essen wurde auch nicht mehr so recht zubereitet, zumal man
nicht wusste, was die nächste Stunde bringen würde. Im Grunde
war es von meiner Mutter, aber auch von meinem Großvater
Gustav Schütz, verantwortungslos, das Dorf vor den
anstürmenden Russen nicht zu verlassen. Hatte doch die
deutsche Propaganda immer wieder dargestellt, was die
Deutschen beim Einmarsch der Roten Armee zu erwarten hätten.
Aus antinazistischer Haltung wollten meine Mutter sowie mein
Großvater diese drohenden Übergriffe nicht wahr haben. Es
sollte später aber noch fürchterlicher werden, als zuvor
propagandistisch angekündigt worden war. Die Nacht hatten
wir im Hause meines Großvaters verbracht.
Morgens schickte mich meine Mutter zu unserem Zuhause, um die Hühner zu füttern.
Auf dem Weg dorthin hatte die deutsche Wehrmacht vor der Schule ein Flakgeschütz
aufgestellt. Plötzlich kam aus Richtung Sand ein deutscher Panzer mit einer
hochdekorierten militärischen Besatzung über die Brücke gefahren und hielt vor der
Schule. Die Besatzung erschien mir nervös und hektisch. Auf dem Panzer waren tote
und auch verwundete deutsche Soldaten mit Stricken festgezurrt. Die Panzerbesatzung,
die sich offensichtlich angesichts der bedrohlichen Frontlage absetzen wollte, studierte
die Straßenkarte und fragte mich, ob die kleine Brücke, die zwischen Schaaksvitte und
Schmiedehnen über die Schaakener Beek führt, eine Betonbrücke sei. Da ich aufgrund
meiner Ortskenntnisse dies verneinte, entschlossen sie sich, den Weg über Schaaken
nach Gunthenen und Powunden zu nehmen. Offensichtlich waren sie aber auch
bemüht, die auf dem Panzer transportierten, verwundeten Soldaten ärztlich versorgen
zu lassen.
So wie wir hielten sich immer noch einige Familien und ältere Leute im Dorf auf, die
nicht fliehen wollten oder nicht konnten. Am Vormittag des 27. Januar hatten mein
Großvater und ich noch im Holz- und Wagenschuppen an zwei voneinander getrennten
Stellen Holzkisten mit Schmalztöpfen, eingewecktem Fleisch und Rauchfleisch
vergraben.
Es mag gegen 13 Uhr gewesen sein, als auch wir uns mit dem Großvater und meiner
Tante mit ihren Kindern endlich auf die Flucht machten. Dies geschah auch nur unter
dem Druck, weil uns deutsche Soldaten unsere zwei Pferde wegnehmen wollten, damit
sie sich schneller vor den anrückenden Russen auf und davon machen konnten.
Mit dem bepackten Pferdeschlitten zogen wir in Richtung Cranz über das zugefrorene
und verschneite Kurische Haff, das von Flüchtlingen und Angehörigen der deutschen
Wehrmacht sowie Volkssturmleuten übersät war. Kaum waren wir einige Kilometer
vorangekommen, als wir von einem tief fliegenden Flugzeug beschossen wurden. Dabei
wurden einem Volkssturmmann beide Beine zertrümmert.
Gegen Abend des 27. Januar, es war ein Samstag, kamen wir im Fischerörtchen
Stombeck an. Das Dorf hatte nur fünf oder sechs Häuser und war von Flüchtlingen
belagert. Wir konnten dennoch bei einem Fischer, den mein Großvater kannte, eine
Bleibe finden.
Vereinzelt waren Wehrmachtsfahrzeuge im Eis stecken geblieben, darunter auch Panzer, die
sich vom Land her über das Eis des Kurischen Haffes wegen der drohenden Gefahr
absetzen wollten. Diese Fahrzeuge wurden von ihren Besatzungen gesprengt oder
angezündet.
In dieser Nacht auf den 28. Januar 1945 sah man landeinwärts weit und breit Gehöfte und
Häuser brennen. Ich vermag heute nicht mehr zu sagen, ob wir in dieser Nacht überhaupt
haben schlafen können.
Am folgenden Sonntag, dem 28. Januar, einem schönen Wintertag mit Sonnenschein und
blauem Himmel, kam gegen acht Uhr morgens der Fischer Robert Gomm, der wie wir von
Schaaksvitte nach Stombeck geflohen war, zu meinem Großvater und fragte ihn, ob er nach
Schaaksvitte mit zurückfahren wolle, um das Vieh zu versorgen. Mein Großvater ließ sich
überreden. Er nahm eines seiner Pferde, spannte es vor einen größeren Rodelschlitten und
fuhr mit Robert Gomm und der Hanna Perkuhn, die beide für sich ebenfalls einen Pferde-
Rodelschlitten hatten, über das Eis nach Schaaksvitte. Später habe ich über diese Menschen
und ihr Vorhaben nachgedacht: Sie waren sich anscheinend aufgrund ihrer starken
Bindungen zu Haus und Hof dessen nicht bewusst, was sie in Schaaksvitte erwarten würde,
wo bereits eine Stunde nach unserem Aufbruch die Soldaten der Roten Armee einmarschiert
waren.
Gegen 10 Uhr dieses Tages hieß es plötzlich auch in Stombeck: Die Russen kommen. Sie
kamen ebenfalls mit Pferdeschlitten über die verschneiten Wiesen und Äcker. Diese ersten
waren ältere Sowjetsoldaten, die in alle Räumlichkeiten schauten und nach deutschen
Soldaten suchten; bei dieser Gelegenheit nahmen sie den Frauen und Männern auch schon
ihre Uhren und Trauringe ab. Ein älterer russischer Soldat mit einem stärkeren Bart sagte in
gebrochenem Deutsch wörtlich: „Wir sind gutmütig, aber die, die nach uns kommen, sind
böse und ihr werdet später einmal Holz fressen.“
Wir wussten damals noch nicht, wie grausam sich diese Aussage später einmal
bewahrheiten sollte.
Im Laufe des Tages trafen immer mehr russische Soldaten in Stombeck ein. Unter anderem
nahmen sie auch das zweite Pferd meines Großvaters mit, das sich in einem Stall befand.
Vor dem Haus, in welchem wir Zuflucht gefunden hatten, stapelten sich die blutdurchtränkten
weißen Tarnanzüge. Anscheinend hatten die Sowjets trotz ihrer militärischen Überlegenheit
auch sehr große Verluste.
Der Abend dieses ereignisreichen Tages brach herein und es wurde Nacht. Aus der Ferne
vernahm man immer noch Gefechtslärm. Immer wieder betraten betrunkene russische
Soldaten das Haus und trieben uns mit ihren Handgranaten und Maschinenpistolen Angst
und Schrecken ein.
Am Montagmorgen, dem 29. Januar 1945, kam Robert Gomm, der am Tage zuvor mit
meinem Großvater nach Schaaksvitte gefahren war, nach Stombeck zurück. In der
Dunkelheit war er den Russen entkommen und hatte sich in der Nacht durchgeschlagen. Er
berichtete von den Verbrechen der russischen Soldaten, insbesondere an den Frauen und
wie es ihm seit dem Vortage ergangen sei. Über den Verbleib unseres Großvaters wusste er
nichts und konnte uns nichts sagen.
Aufgrund dieser schrecklichen Erlebnisse, vielleicht aber auch seiner Enttäuschungen, war er
wohl zu der Erkenntnis gelangt, dass das Leben nicht mehr lebenswert sei, denn er nahm
einen Strick, ging in eine Scheune und erhängte sich. Erst später wurde mir bewusst, was
ihm durch seinen Selbstmord erspart geblieben ist.
Es kann der 30. Januar 1945 gewesen sein, als uns die Russen nachmittags gegen 16 Uhr
dann wieder aus Stombeck vertrieben. Unser Pferdeschlitten, der noch immer vor dem
Hause stand, war wie andere Wagen und Schlitten vollends geplündert worden. Mit den
Dorfbewohnern und anderen dorthin geflohenen Menschen, verließen wir den Ort über das
Eis in Richtung Osten mit einem kleinen Rodelschlitten, auf den wir einige letzte
Habseligkeiten geladen hatten. Entsprechend der deutschen Propaganda sagten die Russen
uns, dass wir nach Sibirien kämen. Eine russische Bewachung war nicht zugegen. Eine
große Furcht war auch, dass wir auf dem Eise von den Russen erschossen werden könnten.
Es war schon finster geworden, als wir uns etwa einen Kilometer vor unserem Heimatort
Schaaksvitte befanden und am Rande des Eises zwischen Schilf und Rohr eine weiße
Gestalt daherlaufen sahen. Ein Teil des Trecks hielt inne, während andere in Richtung Sand
– Steinort weiterzogen.
Einige beherzte ältere Männer begaben sich zu der Stelle, wo die weiße Gestalt gesichtet
worden war. Sie stellten fest, dass es die Hanna Perkuhn war, die sich zur Tarnung ein
weißes Bettlaken umgelegt hatte. Auch sie berichtete von den Gräueltaten der russischen
Soldaten und welche Schändigungen sie über sich habe ergehen lassen müssen. An ihren
Unterarmen zeigte sie uns, wie sie durch das Öffnen der Pulsadern versucht habe, sich das
Leben zu nehmen.
Obwohl es bitterkalt war, beschlossen wir angesichts unserer berechtigten Ängste, die Nacht
lieber im Schilf und Rohr zu verbringen. Meine Tante Trude hatte ihre einjährige Tochter bei
sich, die in dieser Nacht fast erfroren wäre. Mit Hilfe eines Taschenmessers versuchten wir
am nächsten Morgen Schilf und Rohr zu schneiden, um uns eine kleine Hütte zu bauen.
Tagsüber flogen russische Bombenflugzeuge über uns hinweg und luden auf der Kurischen
Nehrung bei Sarkau ihre todbringende Bombenlast ab. Dort hielten sich noch deutsche
Wehrmachtsverbände auf, die sich aus Richtung Memel - Nidden - Rossitten abgesetzt
hatten. Wir hatten noch immer die Hoffnung, die deutsche Wehrmacht würde die Russen
noch einmal zurückdrängen können. In der Dunkelheit hätten wir auch versuchen können,
über das Eis des Haffes nach Sarkau zu gelangen. Ein solches Unternehmen barg aber
andere Gefahren in sich, zumal wir nicht wussten, ob die Wehrmacht nicht aus
Sicherungsgründen das Eis vor der Küste gesprengt hatte und wir dann gegebenenfalls
ertrunken wären.
Obwohl die Russen bei Cranz bereits bis zur Ostsee vorgestoßen und die auf der Kurischen
Nehrung befindlichen deutschen Militäreinheiten abgeschnitten waren, gelang es durch einen
Gegenangriff der deutschen Truppen aus Richtung Neukuhren sowie den auf der Nehrung
vorhandenen militärischen Verbänden, die Sowjetarmee vorübergehend zurückzudrängen
um einen Korridor zu schaffen. Dadurch konnten die eingeschlossenen deutschen Einheiten
der Kurischen Nehrung „abfließen“.
Die Nacht war wieder sehr kalt gewesen und gegessen haben wir kaum etwas; zumal wir
auch keine Vorräte mehr hatten. Außer einem Sack Zucker und einem Karton
Karamelpuddingpulver, welche wir in einem Versteck im Schilf gefunden hatten, stand uns
nichts Essbares zur Verfügung.
Meine Tante machte den Vorschlag, dass wir uns zu einem in der Nähe des Haffes
befindlichen Heuschuppen begeben sollten, um nicht wenigstens ein bisschen vor der Kälte
geschützt zu sein. Wir gingen entlang der Mündung der zugefrorenen Schaakener Beek, die
hier beidseitig einen Wall hatte, um auf dem Weg dorthin möglichst von den Russen nicht
gesehen zu werden. In dem Heuschuppen angekommen, fanden wir vor Angst auch hier
keinen Schlaf und die Kälte setzte uns auch hier zu.
Durch einen Schlitz in der Bretterwand des Heuschuppens konnten wir unseren Heimatort
Schaaksvitte sehen. Immer noch waren wir im Ungewissen über den Verbleib unseres
Großvaters und sehr um ihn besorgt. Meine Tante wies zwei ihrer Kinder an, sich von hier
aus auf den Weg zum Dorf zu machen und Ausschau nach dem Opa zu halten. Nach etwa
drei Stunden, eine korrekte Zeitmessung war nicht mehr möglich, da uns die Russen bereits
alle Uhren in Stombeck abgenommen hatten, kamen die Kinder unversehrt zum
Heuschuppen zurück. Bis dahin waren unsere Augen ständig durch die Sehschlitze des
Schuppens auf das Dorf und die Kinder gerichtet gewesen. Den Opa hatten sie aber nicht
finden können. Später ist mir zu Bewusstsein gekommen, wie leichtsinnig es doch von
meiner Tante gewesen war, die Kinder ins Dorf zu schicken. Oder hat man immer noch nicht
wahrhaben wollen, wie grausam die russischen Soldaten waren?
Zwischenzeitlich war ich alleine durch den tiefen Schnee der zugefrorenen Schaakener Beek
zu den im Schilf und Rohr Ausharrenden gegangen, um etwas Trinkbares für die einjährige
Tochter meiner Tante zu holen. Als ich zum Heuschuppen zurückgekehrt war, beschlossen
wir, uns doch wieder der Gruppe im Schilf und Rohr anzuschließen; zumal man in einer
Gemeinschaft auch die Ängste besser überwinden kann. Fünf Nächte hatten wir bereits auf
dem Eise verbracht, als uns russische Soldaten mit einem Spürhund fanden und uns nach
Schaaksvitte trieben. Meiner Mutter, die Stiefel trug, hatte ein russischer Soldat die Stiefel
ausgezogen. Wie sie über das Eis weiter gelaufen ist, weiß ich heute nicht mehr.
In einem Haus in der Nähe des Hafens durften wir den Ofen heizen und uns etwas Essen
kochen. Am späteren Nachmittag trieb man uns unter Bewachung wieder weiter, zu dem
etwa einen Kilometer entfernten Ort Eythienen. In einem Insthaus des Bauern Lenk brachte
man uns unter. Als wir das Haus betraten, fanden wir eine 80-jährige Frau vor, die erkrankt
im Bett lag und auf ihren Tod wartete. Als sie die jüngeren Frauen sah, sagte sie: »Das wird
eine Nacht werden, ich habe jede Nacht einige Male herhalten müssen.“ Sie wollte damit
sagen, dass sogar sie, alt und todkrank, von den Vergewaltigungen nicht verschont
geblieben war.
Es war finster geworden und tatsächlich kamen nunmehr die ersten Vergewaltiger, jede
andere Bezeichnung wäre falsch. Um sich Respekt zu verschaffen und um Angst und
Schrecken zu verbreiten, schossen sie in die Wohnzimmerdecke. Danach suchten sie nach
Frauen, um sie im Nebenzimmer zu vergewaltigen. Es war auch eine hochschwangere Frau
dabei, die sich diesem Schicksal ergeben musste und später an den Folgen verstorben ist.
Eine andere 24-jährige Frau wurde in der betreffenden Nacht von 23 Sowjetsoldaten
missbraucht. Als die verbrecherischen Strolche sie aus dem Raum zerren wollten, stellte sich
ein Mann mutig dagegen und wollte sie zurückhalten. Mit dem Gewehrkolben schlugen die
Täter auf ihn ein, bis er blutüberströmt zusammenbrach. Es war die Nacht der Soldateska.
Wieder halbwegs erleichtert waren wir, als es draußen endlich hell wurde. Viel Leid ist denen
erspart geblieben, die sich zuvor das Leben genommen haben.
Am nächsten Morgen trieb man uns über Kirche Schaaken nach Sudnicken. Kurz vor
Schaaken lagen am Straßenrand mehrere Leichen im Schnee. Eine ältere, tote Frau
erkannten wir als die Ehefrau vom Schuhmacher Gehlhaar aus Schaaksvitte wieder. Diese
Menschen waren scheinbar vor Erschöpfung gestorben oder erschossen worden. In
Sudnicken mussten wir unsere restlichen Habseligkeiten, die wir noch im Gepäck hatten,
unter Gewaltandrohung hergeben. Ich hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken. Bevor
ich diesen jedoch ablegen konnte, hatte ein Rotarmist ihn bereits aufgeschlitzt und der Inhalt
fiel zu Boden. Danach sperrten sie uns in ein Zimmer des Hauses ein. Unter den zahlreichen
Menschen, die kaum noch Luft zum Atmen hatten, stimmte plötzlich eine ältere Frau das
Kirchenlied „Näher mein Gott zu dir“ an und alle, die das Lied kannten, sangen mit. Es war
ein Ausdruck der Ohnmacht und der Verzweifelung – denn, wo war Gott? Wie Jesus am
Kreuze hätte man auch sagen können: „Mein Gott, warum hast Du uns verlassen?“
Am späteren Nachmittag formierte sich ein Treck. Man trieb uns in Richtung Königsberg, wo
noch Kampfhandlungen stattfanden. Gegen Abend kamen wir in der Ortschaft Trömpau an,
etwa 22 Kilometer nördlich von Königsberg gelegen. In den leerstehenden Insthäusern des
Gutes durften wir übernachten. Die Wäsche gewechselt oder uns gar gewaschen hatten wir
schon lange nicht mehr.
Am folgenden Tag ging der Treck, der inzwischen angewachsen war, wieder zurück in
Richtung Sudnicken und weiter ostwärts. Und wieder hieß es, wir kämen nach Sibirien.
Bei den vielen Menschen und den Strapazen für Frauen, Kinder und Greise, wurde der
Menschentreck auseinander gezogen und wir hatten auf diese Weise unsere Tante
Trude mit ihren drei jüngsten Kindern verloren. Anja, die älteste Tochter, hatte sich uns
angeschlossen.
Die folgenden Nächte verbrachten wir in Stallungen und Scheunen. Unser Bestreben
und unsere Hoffnung, die Tante wiederzufinden, erfüllten sich leider nicht. Ihre Tochter
Anja blieb deshalb bei uns. Wir hatten uns mit der Familie Wilhelm Voß aus
Schaaksvitte und deren Töchtern Elfriede und Edith sowie deren Sohn Fritz, der nicht
Soldat geworden war, zusammengeschlossen. Außerdem hatten sich die Ehefrau des
Gutsbesitzers Corsepius aus Ginthieden und deren Tochter, Frau von Bülow, uns
angeschlossen. Den Ehemann und Vater hatten die Russen in Schaaksvitte
erschossen, wohin sie noch geflohen waren. Im Gutshaus Bökenkamp hatte sich der
alte Herr auf einen Stuhl setzen müssen, während die beiden Frauen ihn links und
rechts festhalten mussten. Dann veranstalteten die Rotarmisten ein Zielschießen auf
ihn. Beide Frauen hatten nach diesem schrecklichen Erlebnis versucht, durch die
Einnahme einer Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben zu scheiden, was jedoch
misslang.
Mit zwölf Personen hatten wir uns vom großen Treck abgesondert und kamen eines
Tages in ein Dorf, meiner Erinnerung nach war es Sielkeim bei Kaimen, dort hatten die
Russen Milchkühe zusammengetrieben. Ein russischer Offizier kam auf uns zu und
versuchte uns klarzumachen, dass wir die Kühe melken sollten. Da weder er der
deutschen und wir andererseits nicht der russischen Sprache mächtig waren, unterhielt
er sich mit der zuvor erwähnten Frau Corsepius in der französischen Sprache.
An diesem Tage wurde der 26-jährige Sohn der Familie Voß von russischen Soldaten
mitgenommen Bis heute ist nicht bekannt, wo er verblieben ist.
Nach einigen Tagen kamen wir in Irglacken an, einem Dorf kurz vor der Kreisstadt
Tapiau. In einem leer stehenden Haus bezogen wir im Dachgeschoß ein Zimmer, wo
alle zwölf Personen schliefen. Auf dem Dachboden des Hauses fand ich einen halben
Sandkuchen, den die Hausbewohner offenbar bei ihrer überstürzten Flucht vergessen
hatten. Was ist aber schon ein vergessener Sandkuchen gegenüber den
zurückgelassenen, liebgewordenen Dingen, oder dass man die Tiere, zu denen man
eine Bindung hatte und die den Menschen viel bedeutet haben, einem ungewissen
Schicksal überlassen musste.
Mit zwölf Personen hatten wir uns vom großen Treck abgesondert und kamen eines Tages
in ein Dorf, meiner Erinnerung nach war es Sielkeim bei Kaimen, dort hatten die Russen
Milchkühe zusammengetrieben. Ein russischer Offizier kam auf uns zu und versuchte uns
klarzumachen, dass wir die Kühe melken sollten. Da weder er der deutschen und wir
andererseits nicht der russischen Sprache mächtig waren, unterhielt er sich mit der zuvor
erwähnten Frau Corsepius in der französischen Sprache.
An diesem Tage wurde der 26-jährige Sohn der Familie Voß von russischen Soldaten
mitgenommen Bis heute ist nicht bekannt, wo er verblieben ist.
Nach einigen Tagen kamen wir in Irglacken an, einem Dorf kurz vor der Kreisstadt Tapiau.
In einem leer stehenden Haus bezogen wir im Dachgeschoß ein Zimmer, wo alle zwölf
Personen schliefen. Auf dem Dachboden des Hauses fand ich einen halben Sandkuchen,
den die Hausbewohner offenbar bei ihrer überstürzten Flucht vergessen hatten. Was ist
aber schon ein vergessener Sandkuchen gegenüber den zurückgelassenen,
liebgewordenen Dingen, oder dass man die Tiere, zu denen man eine Bindung hatte und
die den Menschen viel bedeutet haben, einem ungewissen Schicksal überlassen musste.
In Irglacken verbrachten wir eine längere Zeit, als uns die Russen dann auch hier wieder
fort jagten. Schließlich sollten wir doch nach Sibirien. Sibirien war für uns eine
furchterregende Vorstellung. Um den Weg dorthin zu verzögern, bewegten wir uns nicht
nach Osten, sondern in nördliche Richtung.
Eines Tages kamen wir in Adl. Legitten an, einem Gutsdorf einige Kilometer westlich von
Labiau gelegen. Hierhin hatte es bereits auch andere Deutsche verschlagen. Wir
durchstöberten die Gegend nach Essbarem. In den Kartoffelmieten fanden wir noch
reichlich Nahrung. In der Nähe des Gutshauses lag ein totes Schwein Wie lange das Tier
dort gelegen haben mag, war ungewiss. Dennoch habe ich ein Stück Fleisch aus dem
Kadaver geschnitten, mitgenommen und die Mutter hat es schließlich gebraten.
In der Nähe, so auch über den Hof, liefen mehrere einjährige Pferde umher. Diese Pferde
kamen auch hin und wieder in die offene Scheune. Eines Tages fingen einige Männer eines
der Pferde und schlachteten es. Es gab leckere Rouladen und Frikadellen. Es war das erste
Mal, dass ich Pferdefleisch gegessen habe.
Nachts kamen die russischen Soldaten auch hierhin und holten sich die deutschen Frauen
und Mädchen.
Zwischenzeitlich war es März geworden, der Schnee taute und es schien, als wollte es
frühzeitig Frühling werden. Von der Hauptstraße führte ein grundloser Feldweg zu diesem
Gutsdorf. Eines Tages kamen zwei russische Soldaten diese Straße entlang, um uns noch
die wenigen Habseligkeiten zu stehlen, die wir uns inzwischen aus den verlassenen
Häusern zusammengesammelt hatten. Sie durchwühlten alles und nahmen schließlich die
Schuhe meines Bruders mit. Als sich die beiden Soldaten im Nachbarhaus aufhielten,
schlich ich mich durchs Fenster, lief über das Feld ins nächstgelegene Dorf zu einem
russischen Militärarzt, der meinen Bruder wegen eines Geschwürs am Kopf einige Tage
zuvor operiert hatte. Nachdem ich ihm die Begebenheit geschildert hatte, telefonierte er mit
einer anderen Stelle und ein mit einem Gewehr bewaffneter Soldat machte sich mit mir auf
den Weg zu unserer Ortschaft. Obwohl sich die beiden Diebe bereits auf dem Rückweg
befanden, wurden sie eingeholt und wir bekamen die gestohlenen Gegenstände wieder
zurück.
Diesen russischen Militärarzt – es war ein Stabsoffizier – habe ich später mit Lew Kopelew
und Solschenizyn verglichen, die trotz der aufgeheizten, russischen Propaganda
menschlich und human geblieben waren. Leider gab es nur wenige solcher mutiger
Menschen, denn aufgrund ihrer mitfühlenden und aufrechten Haltung mussten sie selbst um
ihr Leben bangen oder befürchten in ein Straflager zu kommen.
Nach dieser Begebenheit hatte ich panische Angst bekommen, weil ich damit rechnen
musste, dass die Plünderer nachts wiederkommen würden, um sich zu rächen und mich zu
töten.
Schon wochenlang hatten wir uns nicht mehr gewaschen, gebadet oder die Wäsche
gewechselt; denn noch nicht einmal nachts konnten wir uns unserer Kleidung entledigen.
So blieb es nicht aus, dass wir eines Tages die Bekanntschaft mit den kleinen „Haustieren“,
den Läusen, machten.
Am 2. Ostertag jagten uns die Russen auch von Adl. Legitten wieder fort. Es war
frühlingshaftes Wetter und wir liefen über einen Acker zu einem in der Nähe gelegenen Ort.
Schließlich kamen wir in Schakaulack an. Dieser Ort liegt an der Eisenbahnstrecke Tapiau -
Labiau. Als wir uns dort mit einigen Deutschen unterhielten, tauchten plötzlich zwei
russische Soldaten mit einer Frau auf, die als Dolmetscherin fungierte. Sie fragten mich wie
alt ich sei.