Krieg und Heimat
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Gewalt, Tod und Odyssee
Fluchtbericht von Hans Lemke
 Die folgenden beiden Briefe wurden dankenswerter Weise von Anette Laubstein aus dem Nachlass von Herbert Laubstein zur Verfügung gestellt. Sie stammen von Hans Lemke (nicht zu verwechseln mit Hans-Georg Lemke; Hans Lemke ist dessen Onkel und somit mein Großonkel; ein Bild von ihm ist hier zu finden -i.d. Mitte-), ehemaliger Bürgermeister von Schaaksvitte, aus dem Flüchtlingslager Klövermarken/Dänemark am 11.6.1946 und am 15.9.1946 an die Schaaksvitter Lehrerwitwe Elise Vogel geschrieben hat. Die  Namen der Einwohner auf der Flucht werden offen genannt, um ggf. Interessenten einen Nachweis zu liefern. Die meisten sind wohl um bzw. vor 1900 und damit vor 120 Jahren geboren. Dies ist die nach dem deutschen Archivgesetz einzuhaltende Schutzfrist, die hier bewusst eingehalten werden soll, auch wenn es sich um zwei Dokumente aus nichtöffentlicher Provenienz handelt. Einige Namen waren nur schwer zu entziffern und konnte auch durch Vergleichsquellen nicht verifiziert werden. Ggf. bitte ich um Korrekturen per mail (drberndlemke@gmail.com)
”Klövermarken, 11.6.46 Sehr geehrte Frau Vogel! Gestern, Pfingstmontag, war ich Stickel besuchen, wobei ich Ihren Brief vom 20.5.46 gelesen habe. Einen Brief von Ihnen habe ich bisher nicht erhalten und so will ich mich sofort melden. Also, sehr geehrte Frau Vogel, Sie sind bisher die Einzige aus Schaaksvitte, an die ich schreiben kann. Ich will Ihnen kurz berichten, wie ich Schaaksvitte verlassen habe und was mir bisher von meinem Heimatort bekannt ist: Am 25.1.1945, nachmittags, kam der Räumungsbefehl für Schaaksvitte. Meine Schwester Grete und meine Schwägerin Elise [Frau des Tischlermeisters Paul Lemke, mein Großvater und damit meine leibliche Großmutter, B.L.] mit den vier Kindern, meine größte Sorge, war schon zuvor mit der abrückenden Sanitätskompanie nach Cranz und von da weiter nach Garbseiden zu meiner Schwester Elsbeth gefahren. Der große [Omni]Bus der [Königsberger] Kleinbahn stand uns ebenfalls zur Verfügung, mit dem die Frauen mit Kleinkindern bis Cranz befördert werden sollten. Leider hatte der Bus bei Granz eine Panne und blieb dort liegen. Die bespannte Kolonne [einer militärischen Einheit], die bei Bökenkamp [Bauer und Gutsbesitzer] einquartiert war, stellte alle entbehrlichen Pferde zur Verfügung, so dass ein großer Teil mit eigenem Fuhrwerk auf die Reise [=Flucht] ging. Bis zum Abend des 25.1.1945 war Schaaksvitte zum größten Teil geräumt. Schwester Else [= Elsbeth] fuhr mit Frau Tessenleit, Frau Schmissat, Tante Lenchen und Lotte. Buchloos und Frau Czesnat fuhren auch zusammen, Frau Grete Minuth mit der alten Frau Minuth kamen mit Müller Minuth mit, Komms, Thulkes u.s.w., alles Richtung Cranz. Ich fuhr mit der bespannten Einheit um 22.00 Uhr abends zusammen mit Herrn Czesnat, Onkel und Tante und Frau Schmehr, Kürschners, Gassenstein, Klara Naumann und noch anderen mehr von Schaaksvitte in Richtung Rudau ab. Die Fahrt war schrecklich. Strenger Frost, dabei dauernd Fliegerbeschuss. Gegen Mittag am 26.1. kamen wir kurz vor Rudau [an]. Die Straßen waren von Flüchtlingen und Militärkolonnen total verstopft. Durch widrige Umstände verlor ich die Kolonne und somit auch mein Gepäck. Ich konnte sie nicht mehr auffinden. Da ich ebenfalls nach Garbseiden zu wollte, fuhr ich mit einem Militärlastwagen in Richtung Neukuhren und kam schließlich am 27.1.1945 in Rantau an, wo ich mich erst einmal ausschlafen konnte und am 28. frisch nach Garbseiden ging. Hier traf ich nun alle zusammen an. Schwester Grete, Schwägerin Elise, Schwägerin Frieda aus Jägerthal mit den Kindern und Frau Naujok, Penks aus Postnicken, dazu noch 2 Brüder von Schwägerin Pustlauk. Das Haus bis oben voll. In Garbseiden waren auch Frau Schmissat, Tante Lenchen und Lotte, Buchloos, Frau Czesnat, die Leute von Bökenkamp [Hier sind wohl dessen Bediensteten, die sog. „Instleute“, gemeint], Klammuschen mit Frau Dietrich einquartiert. Meine Schwägerin Frieda fuhr nun auf Anraten bekannter Soldaten weiter nach Neukuhren, Rauschen. Die Front kam immer näher. Meine Schwägerin [Elise] wurde hier in Garbseiden von einem Jungen entbunden [dieser starb ziemlich rasch]. Am Sonntag, den 3.2.1945, am Geburtstag meiner Schwester Grete, setzte plötzlich starker Beschuss ein. Wir wollten im nahen Walde Unterschlupf suchen und wurden durch den stärker werdenden Beschuss auseinandergesprengt. Ich wurde an einer Rückkehr zu den Angehörigen von unserer Nachhut gehindert und mit Gewalt nach dem Seestrand, dem einzigen passierbaren Weg nach Neukuhren, abgedrängt. Ich stand nun ganz alleine ohne Gepäck, ohne alles. Ich hoffte immer, wir würden uns wieder zusammenfinden. Leider bis jetzt vergebens. Nun wanderte ich mit dem Flüchtlingsstrom und den zurückgehenden Soldaten Richtung, immer am Seestrand. Hier traf ich Frl. Wegner, Lehrerin aus Steinort, und Gerda Sprie, die von Cranz zu Fuß ebenfalls ohne jegliches Gepäck nach Neukuhren wanderten. In Neukuhren traf ich dann viele Schaaksvitter, wie Komms, Thulkes, Müller Minuth, Kraftwagen fuhr Neumanns, Kaschub Schaaken. Alle warteten auf eine Verschiffung von dort, was mir aber sehr unwahrscheinlich erschien. Von Neukuhren wanderte ich weiter nach Rauschen und traf hier durch Zufall mit meiner Schwägerin Frieda, die hier Quartier bezogen hatte, zusammen und [wir] sind bis jetzt zusammengeblieben. Von Rauschen versuchten wir zusammen mit noch anderen Fuhrwerken unter Führung des Gendarmeriebeamten Hinz aus Postnicken nach Pillau zu gelangen, kamen nach abenteuerlicher Fahrt am 14.2. nur bis Palmnicken und mussten in Sorgenau Quartier beziehen. In Sorgenau wurden wir von Tante Lenchen, Lotte, Buchloos und Frau Czesnat besucht. Sie waren auf einem Gut einquartiert. Frau Tessenleit mit Schwester Else war bei Gr. Hubnicken, Gustav Görke mit Frau Grete Masteit wohnten in Germau, Nensiges in Palmnicken. In Sorgenau waren noch Zollmanski mit Familie und Georg Nord. Wir haben uns alle gegenseitig besucht. Richard Kuhrs waren in Georgenswalde. Wie mir Richard Kuhr und auch von anderer Stelle erzählt wurde, soll ein Teil der Schaaksvitter in Stombeck von den Russen überrascht worden sein. Die Männer, wie Wilhelm Voß mit Fritz Karl Perkuhn mit Sohn Albert, Janks und noch andere mehr nach Tauroggen in Marsch gesetzt. Robert Gomm hat sich, nachdem seine Frau in seiner Gegenwart geschändet worden ist, erhängt. Das Auto von Ernst Gomm hat auch Panne gehabt und [ist] wahrscheinlich auch dortgeblieben. Ebenso Frl. Baumann mit Baltruschen zusammen. Es soll jedenfalls schrecklich gewesen sein. In Stombeck hat sich auch der Besitzer Matern mit Frau erschossen. Am 11.4.1945 ging ein Schiffstransport von Pillau angeblich nach Swinemünde. Wir fuhren ebenfalls mit und landeten am 15.4.45 in Kopenhagen. Wir waren in der Technischen Schule untergebracht. Hier ist Frau Naujok und die jüngste Tochter, 8 Monate alt, verstorben. Seit dem 25.1.46 sind wir im Lager Klövermarken mit ca 18.000 Insassen. Über den Verbleib aller unserer Lieben wissen wir bis jetzt nichts. Mein Bruder Max war zum Schluss in Königsberg beim Volkssturm. Gustav Naujok wollte durchaus in Jägerthal bleiben, soll danach aber von einigen Bekannten in Powunden gesehen worden sein. Es ist furchtbar. Meine Schwägerin leidet furchtbar unter dieser Ungewissheit. Man könnte einfach heulen. Aber ich suche immer wieder […] Zerstreuung. Hier im Lager ist auch Dr. Block. Seine Frau hatte in Germau mehrere Kopfschüsse und [soll] im hoffnungslosen Zustande mit einem Lazarettzug weiterbefördert [worden] sein. Sie ist jetzt wieder im Reich und wieder wohlauf. Pfarrer Glaubitt soll sich in Nickelsdorf bei Arnsburg aufhalten und durch Stockschläge zum Krüppel geschlagen worden sein. Herr Gauber soll in Schaaksvitte verstorben sein. Weiteres kann ich Ihnen leider aus unserem Heimatort nicht mitteilen. Nun, liebe Frau Vogel, haben Sie von Ihren Lieben auch noch keine Nachricht. Wo mag Familie Franz Ellendt sein, ebenso Herr Stark. Grüßen Sie bitte Frau Stark recht herzlich und seien Sie gegrüßt von Ihrem Hans Lemke sowie meiner Schwägerin mit Kindern. Ich hoffe recht bald, eine Nachricht von Ihnen zu erhalten." “Klövermarken, den 19.5.46 Meine liebe, liebe Frau Vogel! Ihren Brief vom 25.6.46 aus Gronbaek und vom 30.7.46 aus Aalborg habe ich erhalten. Haben Sie vielen herzlichen Dank dafür. Ich habe mich wirklich aufrichtig gefreut. Entschuldigen Sie bitte, daß ich nicht früher zurückgeschrieben habe. Ich wollte immer etwas Neues erfahren und dann schreiben. Denken Sie sich, liebe Frau Vogel, ich habe von meiner Schwester Grete einen Brief erhalten, geschrieben am 10.7.46. Derselbe hat mich, trotzdem ich mich darüber gefreut habe, tief erschüttert. Wie wohnt seit August 1945 in Postnicken bei meiner Schwester Martha. Schwager Penk ist in einem Lager in Stautau und ist von meiner Schwester schon mehrere Male besucht worden. Schwägerin Lieschen, Pauls Frau, ist im Juni 1945 in Postnicken verstorben, nachdem der ungeborene Junge vorher verstorben war. Die vier Kinder sind bei Grete und Martha. Lieschen ist im Garten begraben, Schwager Gustav Pustlauk ist in [Adlig] Schulkeim verstorben. Der Aufenthalt von Schwester Elsbeth und deren Tochter Erika ist unbekannt, wahrscheinlich verschleppt. Der Sohne Fredie ist ebenfalls bei Grete in Postnicken. Der Vater von meiner Schwägerin Frieda, Herr Naujoks ist ebenfalls verstorben. Ist es nicht furchtbar und grausam? Haben wir dieses alles bestimmt verdient? Unser Haus in Schaaksvitte scholl noch besetzt sein. Das Haus von meiner Schwägerin Frieda in Jägerthal ist noch unbewohnt. Alles Nähere will sie im nächsten Brief berichten. Grete übt ihren Beruf als Schneiderin aus. Bruder Max ist in russischer Gefangenschaft. Karl Schmohr ist mit ihm im Stablak [Landschaft in Ostpreußen an heutigen polnisch-russischen Grenze] im Lager zusammen gewesen. Ebenso Ernst Lindtke aus Gallgarben, der in Berlin verstorben ist und durch seine Schwester meiner Schwägerin Nachricht gegeben hat. Von Frau Petermann habe ich ebenfalls auf meinen Brief Antwort erhalten. Ich wollte evtl. den Aufenthalt von meiner Cousine Lotte und Tante Lenchen, die mit Fr. Schmissat im Samland zusammen waren, erfahren. Sie schreibt mir, daß nach einer Nachricht von einer Frau Frieda Kuhn aus Steinort, Frau Schmissat mit Frau Magda Kömming geb. Kuhn in Julianhöhe bei Willmanns gewohnt haben soll und soll dort ins Wasser gegangen sein. Hoffentlich schreibt mir Grete, ob diese Nachricht zutrifft. Von Herrn Schmissat ist ebenfalls keine Nachricht [vorhanden]. Von Bruder Paul, der in Kurland war, ebenso von Penks wie Jungens wissen wir nichts. Ich warte jetzt immer auf den nächsten Brief von Grete. Was wird derselbe wohl wieder enthalten? Jedenfalls wenn ich irgendwie Nachricht bekomme, schreibe ich sofort. Auch Sie, liebe Frau Vogel, müssen noch so viel Sorgen und Kummer um ihre lieben Kinder haben. Man muss aber all das Schwere mit Geduld tragen. Es hilft alles nichts. Habe jetzt durch Frau Stickel von Julius Kirschner einen Brief erhalten. Er ist in Oksböl mit seiner Frau und Dora [?]. Franz K. ist bei Thimenberg [?] gefallen. Er ist bis Swinemünde mit Muttchen Kaduse und Schwester Else zusammen gewesen und getrennt worden. Frau Stickel hat von ihrer Tochter Lieschen Nachricht. Sie wohnt in Schaaken auf dem Grundstück ihrer Mutter. Ob wir auch einmal unsere Heimat sehen werden? Es gehen ja immer die tollsten Gerüchte herum. Wie überall. Ich habe bis jetzt immer allerhand Sonderholzlatten gebaut. Dieselben werden immer vornehmer und raffinierter. Wenn es noch länger dauert, geht das ganze Schuhzeug zu Ende und dann muss eben Holz aushelfen. Wenn es ginge, möchte ich für Sie, liebe [Frau] Vogel, oder für Frau Lottchen ein Paar anfertigen. Nun liebe Frau Vogel seien Sie, sowie Frau Lottchen herzlich gegrüßt von Ihrem Hans Lemke. Viele herzliche Grüße auch von meiner Schwägerin und deren Kinder. Ich habe alles durcheinander geschrieben. Entschuldigen Sie bitte.”