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Gewalt, Tod und Odyssee
Hans-Georg Lemke
Augenzeugenbericht
Die Flucht in Ostpreußen und die darauffolgenden Jahre
(Niedergeschrieben im November 2005-2006)
Zu Hause waren wir in Schaaksvitte im Samland, ca. 30
Kilometer nördlich von Königsberg, direkt am Kurischen
Haff. Schaaksvitte war ein Fischerdorf mit ca. 650 Einwohnern.
Von Königsberg bis Schaaksvitte verkehrte eine Kleinbahn,
bei uns war Endstation.
Schaaksvitte war vor allem den Königsbergern wegen ihrem
schönen Badestrand bekannt. Die Besucht benutzten immer
die Kleinbahn. Die Fischerfrauen aus unserem Dort brachten
umgekehrt per Bahn ihre Fische nach Königsberg auf den Markt.
Im Winter, wenn es so richtig bitter kalt war, haben sie sich
gewärmt, indem sie deinen Topf mit glühenden Kohlen unter
dem Hocker oder Holzkiste stellten. Durch die großen und
breiten Röcke welche sie anhatten, waren diese Kohlentöpfe
nicht zu sehen.
In Schaaksvitte gab es vor allem Fischer, zudem einige Handwerksbetriebe sowie ein
großes Hofgut „Bökenkamp“. Mein Vater führte hier eine Tischlerei mit 4 Gesellen und 2
Lehrlingen. Diesen Betrieb hatte er von seinem Vater übernommen. Gleich neben der
Tischlerei wohnten wir in einem alten Haus mit Reet gedecktem Dach. Auf dem Dach
war ein Storchennest.
Um die gefertigten Waren auf die Baustelle zu bringen, kaufte er sich einen Opel- Blitz-
LKW. Er wusste aber nicht, dass dieser LKW von der Wehrmacht gemustert war. Als
dann der Polenfeldzug losging, wurde mein Vater sofort mit dem LKW zur Wehrmacht
eingezogen, die Gesellen dann nach und nach in den Krieg beordert. Damit war die
Tischlerei stillgelegt.
Nachdem unser Vater im Krieg war, wohnten wir in diesem Haus unsere
Mutter Elise Lemke geb. Mollenhauer, mein Bruder Erhard 12 Jahre (geb.
1932), Bruder Dieter 9 Jahre (geb. 1935), ich 8 Jahre (geb. 1936), Schwester
Ilse 6 Jahre (geb. 1938).
Gleich nebenan wohnte die Schwester von unserem Vater Grete Lemke, Schneiderin
und der Bruder Hans Lemke Schneidermeister und Bürgermeister unserer Gemeinde, er
war in der Partei.
Vom Krieg bekamen wir zum ersten Mal etwas zu spüren, als Königsberg bombardiert
wurde. Wir sahen den Feuerschein der brennenden Stadt. Unsere Gegend wurde mit
fliegenden, halb verkohlten Papierfetzen übersät. Eines Tages kamen dann Trecks mit
Deutschen aus dem Baltikum an, die dann bei einquartiert wurden. Bei uns wohnten 6 –
8 Personen, darunter auch Kinder. Wir spielten ausgelassen, unter anderem auch mit
Zündkapseln der Wehrmacht. Dabei wurde einem besonders ‚mutigen’
Flüchtlingsjungen, der eine bereits brennende Kapsel hielt, die halbe Hand
weggerissen.
Gedanken über unser eigenes Schicksal kamen uns Kinder eigentlich nicht. Die
Erwachsenen mögen sich wohl Sorgen gemacht haben. Man hat nach der Flucht über
seelische Dinge nie wirklich geredet.
Als dann im Januar 1945 der Gauleiter Koch den Befehl zur Flucht aus dem Samland
gab, hörten wir bereits Kanonendonner. Wir machten dann Ende des Monats auch auf
die Flucht. Von Schaaksvitte ging es nach Garbseiden zum Hofgut Pustlauk. Zunächst
fuhren wir mit dem Bus bis Cranz, den Rest (ca. 6-8 Km) legten wir dann mit mit dem
PKW oder dem Pferdefuhrwerk (?) zurück.
In Garbseiden war die jüngste Schwester meines Vaters auf einer Landwirtschaft
verheiratet. Dieser Hof lag direkt an der Steilküste (Bernsteinküste Ostsee).
Je näher wir uns an der Ostseeküste befanden, desto dichter der Verkehr. Die vielen
Flüchtlingswagen verstopften die Straßen und Wege. Im Gedränge dazu noch die
deutsche Wehrmachtsfahrzeuge, welche ohne Rücksicht durchpreschten, die
Flüchtlinge zur Seite drängten. Manche Wagen rutschten schräg in die Graben, andere
kippten um.
Kinder weinten, die alten Omas jammerten und kamen alleine nicht aus den
Schneemassen raus. Es war die Hölle, dazu kamen immer wieder die Tiefflieger des
Gegners, diese schossen auf alles was sich bewegte. Bei Fliegerangriff, alles runter
vom Fuhrwerg, sich flach in den Graben und in den Schnee geduckt.
Manche Gespanne gingen durch, durch den Krawall der Geschosse wurden die Pferde
scheu, rissen aus, rannten andere Fuhrwerke um. Es war eine Katastrophe. Wir kamen
dann gegen Abends in Garbseiden bei der Verwandtschaft Familie Pustlauk an, die
Pferde waren durchgefroren und fast erschöpft.
Die Familie Max Lemke, ein Bruder meines Vaters, wohnte in Postnicken/ Jägertal. Max
war Bürgermeister dieser Gemeinde, er hatte hier eine Landwirtschaft erworben. Es war
eine große Familie mit Oma und Opa mütterlicherseits. Sie hatten immer wieder
Einquartierung der deutschen Wehrmacht, dies auch noch kurz vor ihrer Flucht.
Diese Familie begab sich schließlich am 21.1.45 auf die Flucht, wohl ein bis zwei Tage,
bevor wir Schaaksvitte verliessen. Ihr Ziel war ebenfalls Hof Pustlauk in Garbseiden. Sie
kamen ca. 2 Tage nach uns in Garbseiden an. Mein Vetter Hans- Joachim Lemke
berichtete mir, das sie dem Hofbesitzer Pustlauk 2 Säcke Hafer für die Pferdefütterung
abkaufen wollten, dieser hat es aber energisch abgelehnt.
Mein Vetter und sein Mitarbeiter Setlak haben dann bei Nacht zwei Säcke Hafer
geklaut, die Spuren mit etwas Streu bestreut und verwischt. Am nächsten Tag kamen
dieselben deutschen Soldaten durch, die bei Max Lemke einquartiert gewesen waren
und trafen nochmals auf die Familie. Auch sie waren das letzte Mal in Jägertal
einquartiert gewesen. Der Offizier der Truppe sagte zu meiner Tante Frieda, „Frau
Lemke spannen Sie sofort ein, der Russe ist nicht mehr weit.“ Frieda Lemke spannte
noch bei Nacht und Nebel ein, los ging’s nach Pillau.
Wir konnten leider nicht mitreisen, denn unsere Mutter stand kurz vor der Entbindung,
aber unser Onkel Hans, der Bürgermeister unserer Gemeinde war verschwunden. Er
hat sich per Fuß, alleine am Strand der Ostsee auf nach Pillau aufgemacht, die Front
immer nur knapp hinter sich lassend. Wie er dies bis Pillau geschafft hat, mit seinem
Klumpfuß, ist uns heute noch ein Rätsel.
Und wie ein Wink des Himmels, er traf dort auf die Familie Frieda Lemke. Diese
Großfamilie kamen dann auf ein Nebenschiff der Gustloff und setzten über nach
Dänemark. Aber unterwegs hatten sie noch einige brenzliche Situationen zu überstehen,
wie sie später berichteten: Kurz vor Garbseiden waren sie von den deutschen
Wehrmachtfahrzeugen in den Straßengraben abgedrängt worden. Die Pferde waren so
entkräftet, der Flüchtlingswagen blieb liegen. Es wurde aus dem Gut Pustlauk Hilfe
geholt. Mit 2 neuen Pferden ging es dann weiter.
Auf der Reise von Garbseiden bis Pillau hatten Lemkes auch Luftangriffe aus der Luft
mitgemacht. Die Plane des Wagens wurde durchlöchert, es wurde aber keiner getroffen.
Sie kamen dann Ende Januar 45 auf das Schiff St. Anderé. Das Schiff daneben, die
Karlsruhe mit Flüchtlingen und vielen verwundeten Soldaten, wurde von einem
Volltreffer (Bombe) in der Mitte getroffen. Innerhalb von 5 Minuten ging es unter, wie
mein Vetter H.-J. Lemke berichtet. Der Flakschütze auf der St. Anderé konnte noch ein
russisches Flugzeug abschießen, als dieses die Bombenluke öffnete, traf er in die Luke.
Das Flugzeug stürzte ins Meer. Der deutsche Soldat wurde dann aber selbst von einer
Granate getroffen. Es wurde ihm hierbei ein Bein abgerissen. Er hat aber durch seine
mutige Tat geholfen, den Passagieren das Leben zu retten.
In der Nacht, bevor die Front uns überrollte, setzten bei meiner Mutter die Wehen ein.
Kein Arzt, keine Hebamme, keine Krankenschwester war erreichbar. Die Frauen unter
sich haben dann das Kind zur Welt gebracht. Es war ein Junge. Er verstarb aber gleich
danach. Richtig getauft wurde er nicht, aber man nannte ihn Uwe und hat eine Notiz
dazu gemacht. In einem Karton gelegt und unter das Bett geschoben, was hätte man
auch sonst noch machen wollen. Die Russen standen schon vor der Tür, die Frauen
haben dann meine Mutter verbunden und angekleidet.
Teil II des Augenzeugenberichtes auf der folgenden Unterseite