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Gewalt, Tod und Odyssee
Fortsetzung von Teil I (der vorigen Unterseite)
Die Front war vorüber, dann kam der russische Tross und gebärdete sich in z.Tl. rohen
und barbarischen Weise. Den Frauen wurde der Schmuck und die Uhren abgenommen,
dann begannen schon die Vergewaltigungen. Unseren Mütter und Frauen ist dabei
unendliches Leid und Endwürdigung zugefügt worden.
Wir zogen dann bald weiter in Richtung Cranz. Cranz war ein internationales Ostseebad
und Kurort am Eingang zur Kurischen Nehrung.
Aber was wir auf dem Weg dorthin erlebten, ist kaum zu beschreiben. Hier mussten
furchtbare Kämpfe stattgefunden haben. Es lagen zahllose Tote umher, Deutsche und
Russen. Was uns auffiel: keiner dieser gefallenen hatte noch einen Schuh oder einen
Filzstiefel an.
Wenn es richtig dick kam, zu viele Tote dalagen, haben wir unserer kleinen Schwester die
Augen verbunden.
Dann in „Cranz“: Unser Haufen setzte sich noch wie folgt zusammen. Unsere kranke
Mutter und wir 4 Kinder: Tante Grete, die Schneiderin, Tante Marta (Penk). Pustlauk,
Tante Elsbet mit Tochter Erika und Sohn Fredi.
In Cranz bezogen wir ein Haus, denn leere Häuser gab’s genug, viele schöne Villen. Die
Besitzer dieser Häuser haben diese ja auch schnell verlassen müssen. Die Russen hatten
die Haustüren natürlich schon längst aufgebrochen. So konnten wir Jungs fast überall
ungehindert eintreten. Die Wertsachen waren alle weg, aber im Keller fanden wir immer
noch viele essbare Wintervorräte. Teile dieser Vorräte haben wir mit nach Hause
geschleppt. Im Moment brauchten wir nicht zu hungern. Einmal kam einer meiner Brüder
mit einem Kasten Sirup nach Hause, übersah aber, das die Kellerfalle nicht zugesperrt
war. Er fiel mit dem ganzen Karton hinunter. Zum Glück ist nichts passiert.
Gleich nach Garbseiden, in Richtung Cranz, dort wo noch die schweren Kämpfe
stattfanden, hatte ein Kastenwagen der deutschen Wehrmacht einen Volltreffer erhalten.
Deutsche Reichsmarkscheine lagen in Hülle und Fülle herum. Auch aus umgekippten
Flüchtlingswagen, welche schon verlassen waren, lag Brot und vor allem Speck und
ganze Schmalztöpfe herum. Wir konnten aber auch nur das mitnehmen, was wir tragen
konnten.
Aber diese Freude in Cranz dauerte nicht lange. Die Vergewaltigungen gingen weiter.
Eines Tages gab’s die Parole: alle Deutschen müssen aus Cranz raus. Nur kurze Zeit zum
Packen, dann ab zum Treffpunkt. Alle, alte Frauen, alte Männer und Frauen mit Kindern,
wir alle mit dabei.
Wir wussten zuerst gar nicht was dies alles soll, aber bald sickerte es durch, dass der
ganze Treck zu Fuß nach Russland soll. Wir hatten jeden Tag ca. 20-30 Kilometer zu
marschieren. Die alten Leute, die nicht mehr konnten, bekamen von russischen Posten
den Kolben des Gewehrs zwei mal ins Kreuz und blieben dann liegen, aus.
Alsbald kamen wir auch durch unser Heimatdorf Schaaksvitte. Keine Menschenseele zu
erblicken. Alles leer. Im kleinen Fischerdorf „Sand“ waren 2-3 Familien nicht geflüchtet.
Diese haben schon wieder für die Russen gefischt.
Meine Mutter und vor allem Tante Grete kannte diese Leute gut. Als der Treck in einem
Moment nicht bewacht war, sind alle von uns in dieses Haus gestürmt.
Tante Grete hat mit den Leuten geredet. Man wurde sich einig, unsere Rucksäcke in ein
hinteres Zimmer versteckt, wir setzten uns in die einzelnen Zimmern.
Die Frauen haben sich im Haushalt betätigt, unauffällig.
Abends kam denn ein Posten des Flüchtlingstrecks, zählte alle Personen, die im Haus
waren. Die gleiche Anzahl durfte am anderen Tag wieder im Haus bleiben, der große
Treck aber zog ohne uns weiter. Glück gehabt, dadurch blieben wir in Ostpreußen in der
Nähe unseres Dorfes, unserer Heimat.
Bei der Fischerfamilie in Sand konnten wir jedoch auch nicht bleiben. Nach dem der große
Treck unserer Gebiet verlassen hatte, zog auch unsere Karawane auf eigenen Wegen
weiter. Karawane Lemke, Penk, Pustlauk, ges. 10 Personen. Tante Marta Penk zog es
natürlich nach Postnicken, zu ihrem Hof, war auch nicht weit dort hin, ca. 6 Km.
Doch im großen Wald zwischen Steingut und Jägertal lag ein Forsthaus, dieses war leer.
Hier zogen wir dann ein, haben von hier ausgekundschaftet, nach Jägertal und
Postnicken.
Nach kurzer Zeit zogen wir dann auf den Hof Penk in Postnicken. Das Wohnhaus war
besetzt, also mussten wir uns mit dem Stall als Unterkunft zufrieden geben. Geschlafen
haben wir auf einer Holzpritsche mit Stroh aufgeschüttet, gewohnt im Stall so gut es ging.
Es dauerte aber nicht lange, bis eine russische Abordnung kam, um Erika Pustlauk, die
ca. 16 Jahre alt war, abzuholen. Tante Elsbet, ihre Mutter, wollte dies nicht zulassen,
„kommt nicht in Frage, unter keinen Umständen geht dieses Mädchen alleine mit, wenn,
dann gehe ich mit“.
Tante Elsbet war die jüngste Schwester meines Vaters. Sie war auch noch jung. Die
Russen berieten sich kurz, und nahmen beide mit (Bergwerk in Sibirien).
Nach dem Forsthaus im Wald vor Jägertal, zogen wir erst nach Julchenhöhe, unsere
Mutter war sehr krank. Mit dem Handwagen zogen wir Buben unsere Mutter zu einer
russischen Ärztin einige Kilometer mit, wir erhofften uns medizinische Hilfe, hat aber nichts
gebracht.
Erst dann zogen alle zurück nach Postnicken zum Hof und Metzgerei Penk. Die älteste
Schwester meines Vaters war hier zuhause gewesen.
Es war 1945, der Frühling hielt Einzug. Anfang April, unser Vetter Fredi Pustlauk, ca. 14-
15 jährig wurde dann auch abgeholt, er kam in ein Jugendlager, blieb aber im Samland. Er
riss aber immer wieder aus. Das letzte Mal kam er dermaßen verlaust bei uns an, durch
die Kopfläuse hatten sich schon richtig wunde Stellen auf dem Kopf gebildet. Tante Grete
hat ihm dann die Haare radikal abgeschnitten, die verlausten Kleider im alten Ofen
verbrannt. Der Ofen hatte schon einige große Risse, aus diesen kamen dann die Läuse
rausgerannt. Ich war dabei, habe diesen mit Vergnügen den Garaus gemacht.
Unsere Gruppe war ohne Fredi jedoch weiter geschrumpft. Wir waren nur noch zu Siebt.
Ich war inzwischen 9 Jahre alt geworden.
Aber die größte Sorge war unsere Mutter. Sie war schwer krank und es gab keine ärztliche
Hilfe weit und breit. Sie war oft nicht bei Bewusstsein. Sie konnte auch mit Tante Grete
nicht mehr reden. Die Zukunft von ihren Kindern wurde nicht mehr besprochen.
Es war etwa Mitte Juni 45, da verstarb unsere liebe Mutter. Sie wachte morgens nicht
mehr auf. Ich habe an diesem Tage am längsten geschlafen, lag bestimmt noch einige
Zeit neben unserer toten Mutter.
Als ich dann aufwachte und zu den anderen lief, war die Trauer groß. Heulend standen
alle zusammen. Was war nun zutun?
Auf den Friedhof konnten wir nicht, dort hatte der Russe sein Tanklager eingerichtet, weil
die großen Bäume Schutz und Tarnung gaben.
Wir Buben haben dann zwischen den Johannisbeersträuchern im Garten ein Grab
ausgehoben, haben sie auf ein Brett gelegt, mit Bettüchern umwickelt, dann ins Grab
gelegt, zugeschaufelt, mit einem kleinen Hügel versehen.
Ab nun waren wir nur noch 6 Personen. Am schlimmsten hatte es unsere Schwester Ilse
getroffen, sie war erst 6 ½ Jahre alt.
Wie ging es weiter?
In den verlassenen Bauernhöfen und Häusern fanden wir Jungs immer noch etwas
Essbares. In den Kellern und Vorratskammern war immer noch etwas zu stibitzen.
Auch in mancher Scheune lagen Getreidegarben, welche noch nicht gedroschen waren.
Diese Garben haben wir Buben dann etwas leichter gemacht, dies gelang nicht immer. Wir
wurden oft von russischen Soldaten vertrieben.
Auf manchem einzelnen Hof machten wir einen unangenehmen und grausigen Fund. Oft
ist der alte Bauer und seine Frau nicht mitgeflüchtet. Sie wollten ihr Viehzeug nicht alleine
lassen. Als dann die Russen kamen, war dann die Haustür verschlossen. Diese machten
dann kurzen Prozess. Die Tür wurde brutal aufgebrochen, die alten Leutchen einfach
erschossen.
Wir kamen dann in diese Häuser, waren geschockt über die bereits in Verwesung
übergegangenen Leichen.
Manche hatten gepackt, Wertsachen in Kisten und in großen Milchkannen verstaut. Sie
konnten dann nicht alles aufladen und mitnehmen. Wir haben dann hier manchen
wertvollen Fund gemacht. Die Rübenmieten von Herbst 1944 waren auch noch eine
Quelle für das Überleben. Dies gelang nicht immer, denn die Russen haben sich auch
bedient. Öfters kam es auch vor, dass wir von russischen Soldaten gefilzt wurden. Von
unserer Habe blieb kaum etwas Wertvolles übrig.
Irgendwann, es war im Jahre 1946, kamen dann auch die russischen Zivilisten an. Diese
waren eigentlich genauso arm dran wie wir und hatten oft auch Hunger. Ihre Lebens- und
Essgewohnheiten brachten uns oft zum Lachen. Sie fanden in ihren neuen Häusern
Schlafanzüge, die die deutschen Bewohner dort zugelassen hatten. Offenbar hielten sie
diese für schmucke Kleider und staffierten damit ihre Kinder am Sonntag zur Spazierfahrt
aus. Wir Buben lachten uns scheckig. Auch ihre Art, auf dem Ofen zu schlafen und die
einfache Art zu essen, war seltsam für uns. Behandelt wurden wir von den Zivilrussen
eigentlich nicht schlecht. Man lebte nebeneinander her.
Deutsche Waffen!
Als die deutsche Wehrmacht auf dem Rückzug war, hat wohl so mancher Soldat seine
Waffe einfach weggeworfen. Die nachfolgenden Russen haben dann lediglich die Kolben
abgeschlagen und das Gewehrschloss weggeworfen.
Wir kamen dann schnell dahinter, haben das Schloss auch immer gefunden. Munition lag
auch überall herum. Wir fanden auch MGs und Kettenmunition, sogar Panzerfäuste. Wir
hatten ein richtiges Munitionslager angelegt, dies natürlich alles hinter dem Rücken
unserer Tanten. Die kolbenlosen Gewehre haben wir auch aussortiert und damit scharf
geschossen. Als dann aber der Rückschlag einer Waffe ohne Kolben mir dann den
Unterkiefer demolierte, hat’s erst einmal gereicht für die nächsten 2 Wochen.
Das Wohnhaus von Tante Marta stand plötzlich leer. Wir zogen dann sofort in diese
Wohnhaus. Unsere Tanten entdeckten dann unser Waffenlager. Direkt am Hof war ein
kleiner Gänseweiher, in diesen Weiher wurden alle unsere Waffen versenkt. Mein Bruder
Erhard hat aber alles durch Tauchen wieder herausgeholt, danach alles getrocknet,
gesäubert und eingeölt, neu versteckt.
Die Rhabarbergeschichte
Zwischen Haus und Hauptstraße war ein kleiner Wassergraben über diesen führte ein
kleiner Holzsteg. Wenn man über den Stag lief hat dieser geklappert. Im Garten waren 3
große Rhabarberstauden hoch gewachsen, also kurz vor der Ernte. Eines Nachts schon
gegen Morgen, ein Geklappere über den Steg. Was war los, wir trauten uns nicht raus bei
Nacht. Die Haustür war jede Nacht von innen festverriegelt. Zusätzlich noch mit einem
Holzbalken verrammelt. Als es hell wurde, liefen alle schnell in den Garten. Was war
geschehen? Russen hatten alle Rhabarberblätter abgeschnitten und mitgenommen, die
Stengel aber stehen lassen.
Die Russen kannten auch so manch andere Speisen nicht und misstrauten auch uns
dabei. So musste Tante Grete für eine Gruppe von Russen (Soldaten) eine Schüssel Aale
braten, unsere Tanten mussten aber zuerst essen. Sie hätten ja giftige Schlangen sein
können, oder vielleicht hatten wir ja Gift beigemischt. Erst danach aßen dann auch die
russischen Soldaten.
Die Getreideernte
Die deutschen Bauern und Großgrundbesitzer hatten im Herbst 1944 die Wintersaat noch
ausbringen können. 1945 war das Getreide gewachsen und gereift. Die Russen hat es
geerntet. Sie banden Garben und stellten diese als Hocke auf.
Dies war wieder eine Gelegenheit für uns, etwas für den Lebensunterhalt zu besorgen.
Unsere Rucksäcke von der Flucht hatten wir ja noch. Dann zogen wir drei Jungs nachts
mit einem Rucksack, einer Decke und einem Holzknüppel aus. Wir legten die Garben auf
die Decke, klopften mit dem Knüppel das Getreide aus den Ähren. Die leeren Garben
stellten wir wieder an die Hocke, das Getreide kam in die Rucksäcke und wir
verschwanden wieder ab nach hause. Die Schlauben und das Spreu haben wir dann
herausgeblasen. Im großen Backofen auf große Kuchenbleche schnell getrocknet, mit der
Kaffeemühle zu groben Mehl gemahlen. Für grobes Brot und Suppe hat’s gereicht. Diese
nächtlichen Ernteaktion wurden natürlich wiederholt.
Ein junger russischer Offizier mit seinem Pferd ritt immer wieder zu uns in den Hof, um am
Brunnen sein Pferd zu tränken. Es muss ein Student gewesen sein, er konnte deutsch und
hat sich mit uns unterhalten. Als er dann weiterritt sagte er: „Hitler nichts gut, aber Stalin
auch nichts gut“. Er legte dann den Finger auf seinen Mund und ritt davon.
Auch aus dem Wohnhaus Penk wurden wir dann eines Tages alle wieder verjagt und zwar
in Richtung Wald, südlich von Postnicken. Bruder Dieter hatte große Schmerzen
(Blinddarm). Ihn nahmen wir im Handwagen mit und bezogen ein Forsthaus im Wald.
Auch von hier mussten wir uns wieder absetzen und sind dann in einem Haus in
Perwissau untergekommen.
Wir wohnten 1945-46 auch eine Zeit lang auf einem Hofgut südlich von Postnicken in
einem Gutshaus. Nebenan wohnte Opa Waldhauer mit seiner Tochter. Beim Schein des
Ofenfeuers hat er mir und meiner Schwester Ilse aus dem Gesangbuch vorgelesen und
wir haben gemeinsam einige Lieder gesungen. Idyllisch war es jedoch nicht wirklich. Die
Ratten im und vor allem um das Haus waren derart zahlreich und aggressiv, dass die
Katze, die wir rausgesetzt hatten, buchstäblich mit dem Schrecken in den Haaren
zurückkam.
1946 kamen etliche russische Familien in unsere Gegend, auch in dieses Dorf. Die
Russenjungen haben das Vieh gehütet. Wir hatten Kontakt mit diesen. Aus mehreren
Fahrrädern haben wir dann ein ganzes Fahrrad zusammengebaut, sind natürlich auch mit
diesem Rad gefahren, z.T. auch freihändig. Die Russenjungen haben dann immer große
Augen gemacht.
Unser Fahrrad haben wir jede nacht in einem Schuppen verstaut, mit einem großen
Vorhängeschloss versehen, hatten aber keinen Schlüssel für dieses. Eines morgens war
unser Rad weg, geklaut (zapserap auf russisch).
Die Russenbuben waren eingebrochen. Wir wussten aber, wer sich bedient hatte. Dann
kam die Rache. Wenn Dieter und ich es mit zwei oder drei Russenjungen zu tun hatten,
bekamen diese richtig Prügel von uns. Mit zweien oder dreien haben wir es immer
aufgenommen, waren es vier oder fünf, dann sind wir abgehauen. Bruder Dieter meint, wir
haben das Fahrrad zurückbekommen. Ich meine diese Rückgabe hat nicht stattgefunden.
Zu dieser Zeit haben wir zum Teil vom Fischfang gelebt. Wir fingen dazu auch Hechte mit
einer Schlinge, die wir von einer Brücke in den Bach eintauchten. Um zu überleben,
mussten wir erfindungsreich sein.
Bruder Erhard war nun schon 13 Jahre alt geworden und musste immer wieder bei den
Russen arbeiten. Er hatte unter anderem mit dem Pferdegespann die Äcker zu bestellen
(z.B. Sähen). Unsere Tante Grete war Schneiderin. Sie hat kleine Säckchen genäht. Diese
hat Erhart immer mit Getreide gefüllt und dann in den Graben oder in einen Busch
geworfen. Wenn es dunkel war, haben wir diese dann geholt. Einmal hat der Aufseher (wir
nannten ihn wegen seiner Kleidung „Blaujack“) ihn beobachtet. Dann bekam er Schläge,
bis der Knüppel abbrach. Aber geklaut wurde aus purer Notwendigkeit weiter.
Tante Gretes Beruf hatte sich herumgesprochen. Es kamen russische Offiziere mit
Uniformstoff. Tante musste Uniformen und Anzüge nähen und schneidern, aber alles auf
Talie, ‚wie bei deutsch Soldat‘, so war die Losung. Sie bekam hierfür Naturalien, Brot und
Mehl. Es blieb aber immer noch Stoff übrig für unsere Kleidung.
Im Frühjahr mussten alle Kinder beim Kartoffelstecken helfen. Die Kartoffeln wurden aber
halbiert, dann erst in den Acker gesteckt. Immer wieder sind natürlich einige Stücke in
unsere Hosentaschen gewandert. Bruder Dieter wurde dabei erwischt. Er bekam vom
Blaujack den Fuß in den Hintern das er in den Graben flog.
Zwischenfall mit Tante Marta und den Russinnen
Nahe dem Hof Penk in Postnicken, ca. 200-300m entfernt, hatten wir ein Stück Feld mit
Gemüse und Kartoffeln für uns selbst angelegt. Im Herbst, als die Erntezeit nahte, haben
wir Jungs an diesem Krautgarten Wache geschoben und aufgepasst, dass niemand
unsere Ernte geklaut hat. Eines Tages kamen 2 Russinnen mit einer Grabgabel und
fingen, an Kartoffeln zu ernten. Wir haben dies bemerkt und sind nach Hause gerannt, um
zu berichten. Tante Marta, etwas beleibt, kam mit großen Schritten auf die Russinnen zu,
riss ihnen die Grabegabel aus den Händen und sie hat mit voller Wucht einer der
Russinnen vor das Schienbein geschlagen. Diese und die anderen Übeltäter ließen dann
das Kartoffelstehlen sein und zogen ab. Tante Marta und ich mussten dann bei der
Kommandantur vortanzen. Wir konnten von Glück sagen, dass sie uns nicht eingesperrt
haben. Marta sagte, „ich viele kleine Malinke zuhause (kleine Kinder), diese muss ich
versorgen“. Wir durften dann gehen. Eine dieser Russinnen hat mich dann danach richtig
fest in die Wangen gekniffen, so dass ich große blaue Flecken hatte.
Im Sommer bzw. Anfang Herbst haben wir Heidelbeeren gesammelt. Erhard, Ilse und ich
sind dazu per Barfuss morgens in aller Frühe einige Kilometer in die Wälder gegangen. Im
Tau haben wir sehr kalte Füße bekommen. Zwischendurch haben wir die Füße im
Strohhaufen gewärmt und danach die Heidelbeeren z.Tl. bei den Fischern gegen Fische
eingetauscht. Unterwegs haben wir so manche Schlange erschlagen.
Die Sache mit dem Übungsballon.
Ein Flugzeug zog hinter sich an einem langen Seil einen Ballon aus gutem Nesselstoff.
Dieser diente als Flugziel für Kampfflugzeuge. Ab und zu kam es vor, das dass Seil
durchgeschossen wurde. Der Ballon fiel dann zu Boden. Ein Teil fiel in einen Wald und
blieb oben an einer Tanne hängen. Mein Bruder Erhard kletterte hinauf, machte ihn los
und warf ihn runter. Diesen Nesselstoff haben wir dann mit einer anderen Familie geteilt.
Es war eine Menge Stoff. Tante Grete hat davon Kleider und Hemden genäht. Hemden
aus diesen Nesselstoff hatten wir noch am Leibe, als wir im August 1948 in
Riedlingen/Altheim (Süddeutschland) eingetroffen sind.
Ein zweiter Ballon wurde einige Zeit später abgeschossen. Er fiel auf ein abgeerntetes
Getreidefeld. Bruder Dieter und ich sind gleich losgerannt, aber es waren auch schon
Russen an diesem Fundort. Nachdem wir schon ganz gut Russisch gelernt hatten, haben
wir denen erzählt, dass dieser Ballon von uns an die Kommandantur abgeliefert wird. Die
Russen haben uns dies geglaubt, den Ballon haben wir dann auf Umwegen nachhause
gebracht.
Brennholzbeschaffung im Winter.
Brennholz für den Winter haben wir Buben selber im Wald geschlagen. Überwiegend die
dürren Bäume, denn die waren ja schon trocken. Mit Bügel und Schleppsäge haben wir
sie kleingesägt, auf dem Schlitten nachhause gezogen und dann klein gehackt.
Die Telefon und Strommasten, welche alle außer Betrieb waren, haben wir Jungs
abgesägt, denn dieses Holz war trocken. Mit den Blitzableitern, diese waren verzinkte
Metall- Bänder, haben diese als Schlittenkufen verwendet. Mit diesen Schlitten haben wir
dann das Brennholz nachhause geschafft.
Hunger macht erfinderisch.
Tante Marta hatte immer getrocknetes Brot in einen Schreibtisch eingeschlossen. Dies als
‚Eiserne Ration‘ für den Fall, dass ihr Mann Albert aus der Gefangenschaft heimkommen
würde.
Doch wir Jungs hatten immer Hunger. Erhard, wie immer erfinderisch, hat die Rückwand
des Schreibtisches abgeschraubt, das Brot entnommen, die Rückwand wieder verschraubt
und dann den Schreibtisch an seinen Platz geschoben. Tante Marta hat sich dann
gewundert, wo das Brot geblieben war. Unser großer Bruder war für uns der Ersatz für
den Vater.
Wenn die jungen Stare fast flügge waren, haben wir diese geraubt, etwas Fleisch war
immer dran. Es war uns kein Dach zu hoch, selbst die Storchennester waren vor uns nicht
sicher. Jedes Ei, das wir fanden, haben wir mitgenommen.
Rückblende und Fazit der Zeit 1945 - 1948
Wir haben drei Jahre keine Schule besucht. Wir sprachen bald besser russisch als
deutsch. Immerhin blieb uns doch viel Freizeit, was allerdings nicht immer
gesundheitsfördernd war. Bruder Dieter traf mich einmal mit einer Eichel, die er aus einer
Steinschleuder abgefeuert hatte. Treffer in mein rechtes Auge, das total zertrümmert
wurde. Ich habe seitdem auf diesem Auge fast nichts mehr gesehen. Ärztliche Hilfe gab es
nicht.
Aber jedes Mal zu Weihnachten gab es doch kleine Geschenke, die uns unsere Tante
Grete nähte.
Der Winter 1945 war kalt mit durchgängig ca. - 15-20° C. Wir fanden regelmäßig
verendete Pferde und Kühe, die tiefgefroren waren. Mit Beil und Axt haben wir das Fleisch
herausgehauen.Tante Grete und Tante Marta sind zu Fuß nach Königsberg gelaufen und
haben dort die letzten Wertgegenstände verhökert. Hin und zurück waren dies 60-70
Kilometer. Insgesamt eine große Leistung, da Marta sowieso schlecht zu Fuß war.
Am härtesten war der Winter 1946-47. Wir hatten kaum etwas zum Beißen und sind
beinahe verhungert. Die Lindenknospen haben wir von den Ästen gepult und Frühjahr die
ersten Wildpflanzen gesammelt, z.B. Melde und vor allem auch Brennessel. Bruder Erhard
wurde krank, Wasser in den Beinen. Sein Zustand war bedenklich, weil es schon bis in
den Leib hochging.
Wir hatten in dieser ganzen Zeit 3-Jahre, keine ärztliche Versorgung und wurden zum Teil
von Zahnschmerzen geplagt, u.s.w.
1947 wohnten wir zuletzt noch in einem Anwesen zwischen Perwissau und dem Forsthaus
in der Nähe von Jägertal.
Ende 1947 begann die Aussiedlung der verbliebenen Deutschen aus dem Königsberger
Gebiet. Alles was wir in den Jahren zusammengetragen hatten, konnten wir nicht
mitnehmen. Einige wertvolle Gegenstände, wie Besteck und noch andere Dingen, haben
diese in Munitionskisten, Metall gepackt, mit Öl konserviert, dann in den dortigen Brunnen
versenkt. (mein Bruder Dieter war inzwischen da, der Brunnen ist verlandet)
Meines Wissens war es Ende 1947, als die noch im Samland befindlichen Deutschen auf
einem Lastwagen nach Königsberg gebracht wurden. Von dort aus wurden wir in
Viehwagen bzw. Güterwagen abtransportiert. Es waren viel zu viele Leute in einem
Wagon. Wir kamen uns richtig eingepfercht vor. Als der Zug dann durch das polnische
Gebiet fuhr, wurden die Türen abgeschlossen und verplombt, dies für einige Tage.
Die Notdurft der Leute musste aber doch stattfinden. Die Verhältnisse waren eklig,
geradezu katastrophal. Die vollen Eimer mit der Notdurft wurden immer durch das kleine
Gitterfenster geschüttet. Einiges davon blieb hängen und kam wieder zurück. Es war
unbeschreiblich.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin wurden wir in ein Lage nach Dessau gebracht.
Hier verblieben wir einige Monate. Besonders in Erinnerung blieb mir die Entlausung.
Vorne und hinter die Kleider, die wir gerade anhatten, wurde das Lauspulver eingeblasen.
Ab Lager Dessau begann die Verteilung in die einzelnen Gebiete. Wir wurden in den Kreis
Stendal verfrachtet, Endstation Dorf Großschwarzlosen. Hier bezogen wir ein Schloss mit
einem großen Park. Wir Kinder besuchten dann auch zum ersten Mal seit drei Jahren für
einige Monate die Schule. Am Anfang taten wir uns sehr schwer. Ab und zu wurden wir
Kinder von einheimischen Familien zum Mittagessen eingeladen. Diese Einladungen
nahmen wir alle an.
1948 erführen wir dann, das unsere Verwandte, die Lemkes aus Jägertal, von Dänemark
zurück nach Deutschland gekommen sind. Sie wohnten nun in Baden- Würt. im Kreis
Biberach. Sie wurden dann in Altheim bei Riedlingen angesiedelt.
Auch unser Vater war zwischenzeitlich aus der russischen Gefangenschaft entlassen
worden, hatte uns dann kurz in der Ostzone besucht. Er blieb nicht lange, sondern
verschwand rasch über die Zonengrenze und nach ging nach Altheim.
Unser Vater sorgte, wohl mit Hilfe unserer Verwandtschaft, dann für eine
Zuzugsgenehmigung in den Westen. Etwa um den 25.8.1948, also kurz nach der
Währungsreform im Westen, machten wir uns auf den Weg in Richtung Westen, wurden
dann aber vor der Grenze aufgehalten. Mit anderen Flüchtlingen wurden wir einen Tag
und eine Nacht in einem nassen und dunklen Keller gesperrt. Dann aber wurden wir über
die Grenze gelassen. Diese Flucht aus der Ostzone war „fünf vor zwölf“. Mit dem Zug
fuhren wir dann in Altheim ein. Es war der Geburtstag der Tante Frieda. Im Schwabenland
angekommen, verstanden wir kein Wort der dortigen Bewohner. Der Dialekt kam uns
zunächst sehr seltsam vor. Anders ging uns dies mit der Landschaft. Als wir bei unserer
Ankunft vom Bahnhof in Richtung Altheim gegangen sind, kam es uns vor wie im
Paradies. Apfelbäume mit bereits reifen Früchten am Straßenrand.
Wir lebten uns in Altheim schnell ein, lernten den schwäbischen Dialekt, obwohl wir
eigentlich schon besser Russisch als Deutsch sprachen. Wir hatten auch sofort Kontakt
mit den Schülern des Dorfes. Unser großes Plus war, das wir Jungs alle gut Fußball
spielen konnten. Wir bildeten dann mit den Einheimischen eine gemischte
Jugendmannschaft. Vier der Lemkes waren immer dabei. Zusammen mit den
Schwabenjungen haben Bruder Dieter und ich im Sturm, die Vettern Joachim und Lothar
in der Hintermannschaft alle besiegt. Ich kann mich an keine Niederlage erinnern.
In der Schule haben wir je ein Schuljahr übersprungen. Ich bin von Klasse 4 in Klasse 6,
dann von Klasse 6 gleich ins 8. Schuljahr gewechselt. Ich habe also nur drei Jahre
Hauptschule absolviert, war damit aber ich nur noch ein Jahr hinter den ‚gewöhnlichen‘
Schülern.
In der selben Nacht brannte noch die Scheune und der gesamte
Stall nieder. Das war wohl durch Beschuss zustandegekommen.
Einige Tiere konnten sich losreißen, die anderen sind alle
verbrannt. Das Gebrüll der Tiere hörten wir bis in Wohnhaus.
Dann am frühen Morgen hatte uns der Russe schon am Wickel.*
Alle anziehen und dann raus aus diesem Haus. (- 20° C) Wir
eilten dann alle über die Felder oberhalb der Steilküste in
Richtung dem Dorf Garbseiden (Bilder von Küste Garbseiden
sind hier).
Nun begann die Hölle erst so richtig loszubrechen. Wir standen
mitten in der Front. Von hinten flogen uns die deutschen Kugeln
und von vorne die russischen um die Ohren. Auf einem der
Felder standen große Betonringe.
Von der Küste kamen laufend russische verwundete Soldaten
mit provisorischem Verband an Kopf, Armen, Bauch, Füße.
Einer dieser Russen sagte zu uns, wir sollten uns doch hinter
diesen Betonringen verstecken. Aber was half's, von vorne
und von hinten bekamen wir Feuer.
Wir haben uns dann einen Tag und eine Nacht, d.h. bis die Hauptfront vorbei war, an der
Ostsee im Schilf versteckt und kamen dann in einem Haus in Garbseiden für kurze Zeit
unter. Wir hörten in dieser Zeit das Brüllen der ungemolkenen Kühe auf den Höfen und
Weiden. Das Vieh wurde später dann von Russen abtransportiert, wenn es überlebt hatte.
* Anm. d. Herausgebers:
(Nach den militärischen Lagekarten der Wehrmacht (BA-MA, RH 2
Ost / 1341) erreichte die Rote Armee Garbseiden kurz vor oder kurz
nach dem 4. Februar 1945. Siehe dazu auch die Karte auf der
vorigen Unterseite (Teil I des Bericht von Hans-Georg Lemke)
Teil III des Augenzeugenberichtes auf der folgenden Unterseite